Schon wieder eine Schießerei live auf Facebook. Gestern die Polizeikontrolle in Minnesota. Eine Frau zeigt der —ffentlichkeit über Facebook erst ihren stark blutenden Freund und erfährt im Laufe des Videos, dass er tot ist. Vor drei Stunden die Schießerei in Dallas, bei der vier Polizisten starben und auch hier gab es ein Livevideo auf Facebook, in dem neben viel Sirenengeheul auch ein am Boden liegender Polizist zu sehen war.
Ich habe mir die Videos angesehen. An dieser Stelle baue ich die Videos nicht in den Text ein und verlinke sie nicht. Ihr sollt nicht durch einen simplen Klick diese Szenen zu sehen bekommen. Ich finde es gut, wenn man schon etwas mehr Aufwand dazu betreiben muss. Schon vor ein paar Wochen diskutierten wir über die Schattenseiten von „Facebook Live“, als ein mutmaßlicher Terrorist in der Nähe von Paris einen Polizisten und dessen Freundin ermordete. Die Diskussion reichte von „Wie kann Facebook so etwas zu lassen?“ bis hin zu „Was macht die Bilder mit uns Zuschauern, die einen bisher unbekannten ungefilterten Zugriff auf Tatorte erhalten?“. Ich habe mir die Videos der letzten 24 Stunden angesehen, weil ich wissen wollte, was diese Videos mit mir machen.
Ist es Voyeurismus? Der Drang dabei zu sein? Überflüssig? Als ich das Video der Frau aus Minnesota sah, habe ich ein Gefühl empfunden, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte: Klarheit. In den letzten Monaten haben uns immer wieder Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA erreicht. Mit der Zeit stumpft man ab. Die Berichterstattung war immer sehr ähnlich. Die Opfer und deren Angehörige klagten an. Die Polizei rechtfertigte sich. Die Proteste. Am Ende bewegte sich wenig und im Kopf festigte sich irgendein Bild über diese Fälle, welches immer wieder abgerufen wird, wenn man von neuen Fällen gehört hat.
Dieses Mal hat uns die Freundin des Opfers mit an den Tatort der Verkehrskontrolle genommen und dafür bin ich ihr auch dankbar. Sie hat unglaublich gut erklärt, was in den letzten Sekunden passiert ist. Wie ihr Freund den Polizisten informierte, dass er seine Papiere aus der Hintertasche habe und wie er sich daraufhin fünf Kugeln einfing. Sie hielt nicht drauf, sie klärte auf. Sie schuf Transparenz. In einem Augenblick sieht man den Polizisten, wie er weiter auf ihren Freund zielt, aber gleichzeitig zittert und schlottert. Es tun sich Fragen in meinem Kopf auf? Reagiert man so nachdem man einen Schuß abgegeben hat? Oder war er völlig mit der Situation überfordert? Das Video funktioniert aus meiner Sicht deswegen so gut, weil die Frau die Situation aus ihrer Sicht erklärt und beschreibt. Es ist natürlich nur ihre Sicht – aber je mehr Sichtweisen man erfährt, desto kompletter wird das Bild.
Mir ist bewusst geworden, wie krass die Todesfälle von schwarzen Amerikanern bei Polizeikontrollen sind. In dem Moment habe ich mich völlig von dem vorgefertigten Bild gelöst, welches die letzten Monate entstanden. Ich kann mir viel besser vorstellen, was wahrscheinlich passiert ist. Den USA dürften schwierige Tage bevorstehen. Das zeigen die Proteste gegen Polizeigewalt in Dallas, die von einigen Idioten missbraucht wurden, um Rache zu üben. Vielleicht geht es den Amerikanern, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, beim Anblick des Videos ähnlich wie mir. Jetzt kann sich auch die —ffentlichkeit ein noch besseres Bild von diesen Zwischenfällen machen und vielleicht steigt so der Druck, um wirksame Maßnahmen gegen die Eskalation bei Kontrollen umzusetzen. Oder wie es Joshua Topolsky vor zwei Stunden twitterte: „Here’s an idea: ban guns.“
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